Die Internet-Verwaltung ICANN hat den Antrag der Ukraine abgelehnt, das russische Länderkürzel .ru, ihr kyrillisches Pendant sowie die Vorgängerendung .su aus dem Domain Name System zu verbannen. Zur Begründung verwies die Netzverwaltung auf ihre strikte Neutralitätspflicht.
Mit eMail vom 28. Februar 2022 hatte sich Andrii Nabok, Vertreter der Ukraine im ICANN-Regierungsbeirat GAC (Governmental Advisory Committee) an ICANN-CEO Göran Marby mit der Bitte gewandt:
Revoke, permanently or temporarily, the domains ‚.ru,‘ ‚.рф‘ and ‚.su‘.
Zudem sollten SSL-Zertifikate für diese Top Level Domains widerrufen und Root-Server in Russland abgeschaltet werden. Zur Begründung verwies er darauf, dass die russische Förderation mit ihrer so genannten »militärischen Operation« internationales Recht verletzt habe; der Angriff sei möglich geworden, weil die russische Propaganda-Maschinerie Webseiten ununterbrochen dazu nutze, um Fehlinformationen und sogenannte Hassreden zu verbreiten, als auch Gewalt zu fördern und die Wahrheit zum Krieg in der Ukraine zu verheimlichen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen würden Nutzern helfen, verlässliche Informationen zu finden und zugleich Propaganda und Fehlinformationen vermeiden. Unterstützung fand dieser Antrag durch ein weiteres Schreiben vom gleichen Tag, diesmal verfasst von Mychajlo Fedorow, stellvertretender Ministerpräsident der Ukraine und Minister für digitale Transformation. Im Erfolgsfall wären so rund fünf Millionen Domains geblockt und die Kommunikation in und außerhalb Russland deutlich erschwert worden. Ihm zur Seite sprang Antony Van Couvering, vormals CEO von Top Level Domain Holdings, der den Hinweisen auf die Neutralitätsverpflichtung ICANNs entgegnete:
Neutrality as a response to murder is not neutral.
Zahlreiche große Registrare, darunter Namecheap, IONOS hatten zudem ihre Geschäftsbeziehung zu russischen Kunden beendet.
Die Antwort von ICANN folgte überraschend schnell, aber nicht im Sinne der Ukraine. In seinem Schreiben vom 02. März 2022 drückte Marby zwar sein Mitgefühl mit den ukrainischen Bürgern aus; zugleich ließt er aber keinen Zweifel an der Neutralität ICANNs:
ICANN is an independent technical organization that manages the Internet’s unique identifiers. […] In our role as the technical coordinator of unique identifiers for the Internet, we take actions to ensure that the workings of the Internet are not politicized, and we have no sanction-levying authority.
ICANN sei dafür da, sicherzustellen, dass das Internet funktioniere, nicht dazu, dass es aufhöre zu funktionieren. Das Multistakeholder-Modell der Netzverwaltung habe dazu geführt, dass das Internet über Jahrzehnte erblüht sei. Die verlangten Eingriffe hätten verheerende und dauerhafte Folgen für das Vertrauen und die Nutzbarkeit dieses globalen Systems. Zum Widerruf von SSL-Zertifikaten sei ICANN im Übrigen gar nicht in der Lage. Das gewünschte Ziel vertrage sich auch nicht mit dem Anliegen der Ukraine:
It is only through broad and unimpeded access to the Internet that citizens can receive reliable information and a diversity of viewpoints.
ICANNs Antwort war zu erwarten. Ungeachtet des von Russland erklären Kriegs und der damit verbundenen Folgen hätte ein jedes Eingreifen einen Präzedenzfall geschaffen, der die Zukunft ICANNs und damit des gesamten Internets in Frage gestellt hätte. Propaganda beschränkt sich nicht auf .ru, und die Regulierung von Inhalten würde Fragen aufwerfen, zu denen ICANN weder technisch berufen, noch wirtschaftlich oder juristisch in der Lage ist. RIPE NCC betonte daher,
that the means to communicate should not be affected by domestic political disputes, international conflicts or war.
Domain-Blogger Kevin Murphy wies jedoch darauf hin, dass ICANN ein Auslaufen von Domain-Namen mit generischer Endung ukrainischer Kunden verhindern könnte, sollten zum Beispiel Verlängerungsgebühren nicht bezahlt werden (können). Ähnliches hatte ICANN im April 2020 im Zuge der Corona-Pandemie getan und ein Vorliegen von »extenuating circumstances« im Sinne des Registrar Accreditation Agreement bejaht. Ob ICANN über diesen Schritt nachdenkt, ist öffentlich aber bisher nicht bekannt.