Die Internet-Verwaltung ICANN verstärkt die Bemühungen um mehr Unabhängigkeit von der US-Regierung: gemäß Beschluss des ICANN „Board of Directors“ soll eine neue Arbeitsgruppe nach internationalen Strukturen suchen, mit der die globale Legitimität optimiert wird.
Im September 2013 wurden erstmals Meldungen laut, wonach ICANN über einen Umzug ins schweizerische Genf nachdenkt. Sie gehen auf eine Äußerung von ICANN-CEO Fadi Chehade anlässlich einer Regional-Konferenz zum Internet Governance Forum in Korea zurück; Chehade hatte dort bekanntgegeben, dass ICANN erstmalig auch in der Schweiz juristische Strukturen schaffe und damit versuche, eine internationale Organisation zu werden, die den Interessen der Welt diene und nicht länger als privates, wenn auch gemeinnütziges Unternehmen nach kalifornischem Recht agiere. Zugleich dementiere ICANN damals aber Meldungen, dass man das Hauptquartier in die Schweiz verlegen wolle. Aktuell verfügt ICANN über drei so genannte »Hub Offices« in Los Angeles (USA), Istanbul (Türkei) und Singapur; dazu kommen vier »Engagement Offices« in Peking (China), Brüssel (Belgien), Montevideo (Uruguay) und Washington D.C. (USA). Letztere sollten durch ein Büro in Genf ergänzt werden.
Doch das schien nur die halbe Wahrheit zu sein. Auf Beschluss des ICANN-Vorstands wurden sechs neue »President’s Globalization Advisory Groups« gegründet, von denen eine einen klaren Auftrag hat: »Establish complimentary parallel international structure to enhance ICANN’s global legitimacy. Consider complementary parallel international structure within scope of ICANN’s mandate.« Für Beobachter ist dies ein erster klarer Hinweis, dass ICANN nicht lediglich nach einem weiteren internationalen Büro sucht, sondern an der juristischen Struktur arbeitet, um zu einer »Internationalen Organisation« zu werden. Internationale Organisationen sind körperschaftliche Gebilde des Völkerrechts von mindestens zwei Staaten oder anderen Völkerrechtssubjekten; derzeit sind weltweit etwa 250 Organisationen tätig, darunter zum Beispiel die Vereinten Nationen. Ein Verlassen der USA wäre für ICANN problematisch, da es die eigene Macht bisher von dem »Affirmation of Commitments« genannten Grundlagenvertrag mit der US-Regierung ableitet. Die Snowden-Enthüllungen erhöhen jedoch den Druck, sich aus der US-Umklammerung zu lösen.
Akram Atallah, vormals COO und aktuell President Global Domains Division bei ICANN, gab sich öffentlich zurückhaltend. Bei der »Fairwinds Beyond The Dot«-Konferenz in Washington (DC) sagte er, dass es keine Pläne gebe, die USA zu verlassen. Aber irgendwo müsse man sein, irgendwo müsse man einen Sitz haben; es handle sich daher um ein fortlaufendes Thema. Am Anfang von ICANN habe die Vision gestanden, dass das Multistakeholder-Modell so gut funktioniere, dass der Betrieb irgendwann auch ohne eine vertragliche Bindung an die US-Regierung laufe, auch wenn dieser Zeitpunkt viel später komme als bisher gedacht. Es gäbe nun jedoch zumindest einige, die meinen, dieser Zeitpunkt sei jetzt gekommen.