Stell Dir vor, dem Internet gehen die IPv4-Adressen aus und niemand interessiert es. Der Wissenschaftler Geoff Huston ist dem Phänomen des schleichenden Übergangs zum Nachfolgeprotokoll IPv6 auf den Grund gegangen – und stellt ihn in Frage.
Seit dem Jahr 2002 berichten wir an dieser Stelle über das Internet der Zukunft, basierend auf dem Internetprotokoll IPv6. IP-Adressen bilden die Grundlage des Domain Name Systems (DNS), sie wandeln Zahlenkombinationen in leichter zu merkende Domains um. In der aktuell verbreiteten Version IPv4 werden die verfügbaren Adressen jedoch knapp, da rechnerisch »nur« 4,2 Milliarden Alternativen denkbar sind. Seit Anfang der 90er Jahre beschäftigen sich daher die Ingenieure der Internet Engineering Task Force (IETF) mit dem Nachfolgeprotokoll IPv6, das längst zur öffentlichen Verfügung steht und theoretisch 3,4 X 10 hoch 38 Adressen möglich macht; gleichwohl steht sein Durchbruch nach wie vor aus. Die Adressknappheit hat mittlerweile zwar zu einem regen Handel mit Preisen zwischen US$ 30,– bis 40,– pro IPv4-Adresse geführt; aber trotz regelmäßiger Warnungen der fünf Regional Internet Registries (RIR), dass dem Internet die Adressen ausgehen, ist ein flächendeckender Einsatz von IPv6 nicht abzusehen. Bereits im Mai 2022 merkte Geoff Huston vom Asia-Pacific Network Information Centre (APIC), einem der fünf RIRs, an: wenn die Aussicht auf ein Aufbrauchen aller IPv4-Adressen den Bemühungen der RIRs irgendeine Dringlichkeit verliehen habe, dann lebe man damit nun schon seit einem Jahrzehnt und sei mittlerweile abgestumpft. Er hoffte jedoch zumindest, dass man dem Übergang nähergekommen sei.
Rund zweieinhalb Jahre später hat Huston auch diese Hoffnung aufgegeben. Für das Jahr 2024 hat er ermittelt, dass etwas mehr als ein Drittel der Internetnutzer auf einen reinen IPv6-Dienst zugreifen kann; alle anderen nutzen immer noch nur IPv4 – obwohl die Adressen längst ausgegangen sein müssten, denn die Zahl der Geräte mit Internetanschluss steigt beständig. Ende 2024 werden Schätzungen zufolge etwa 20 Milliarden Geräte das Internet nutzen. Möglich sei das, weil das Internet jede einzelne IPv4-Adresse mit durchschnittlich sieben Geräten teile. Huston meint:
If end-to-end was the sustaining principle of the Internet architecture then as far as the users of IPv4-based access and services are concerned, then it’s all over!
Zugleich zeigte er sich aber auch selbstkritisch: IPv6 sei nicht schneller, nicht vielseitiger und nicht sicherer als IPv4; es biete auch sonst keine greifbaren Vorteile in Form von geringeren Kosten, höheren Einnahmen oder größeren Marktanteilen, sondern stelle lediglich mehr Adressen zur Verfügung.
Für Huston lautet die Lösung daher, den Übergang von IPv4 zu IPv6 dann als abgeschlossen zu betrachten, wenn IPv4 nicht mehr erforderlich ist, also wenn ein Internet Service Provider einen brauchbaren Dienst betreiben kann, der nur IPv6-Adressen verwendet und überhaupt keine unterstützten IPv4-Zugriffsmechanismen hat. Die Verantwortung liege daher bei den Netzwerken und Netzwerkbetreibern, zunächst in den Übergang zu einer Dual-Stack-Plattform zu investieren, mit dem Ziel, die IPv4-Unterstützung auslaufen zu lassen. Außerdem gelte es, alles aus dem Netzwerk in Anwendungen zu verlagern. Fast ketzerisch stellt Huston die Frage:
Is universal unique endpoint addressing a 1980s concept whose time has come and gone? If network transactions are localized, then what is the residual role of a unique global endpoint addressing clients or services?
Er stellt sogar die Definition des Internets als eine gemeinsame Übertragungsstruktur und einen gemeinsamen Protokolladresspool in Frage, ohne aber eine abschließende Antwort zu geben. Die braucht es aber auch nicht, denn eines ist jedenfalls klar: aller IPv4-Adressknappheit zum Trotz sind dem Wachstum des Internets jedenfalls keine unmittelbaren technischen Grenzen gesetzt – und erst recht nicht dem Registrieren von Domain-Namen.