Der politische Druck auf die Internet-Verwaltung ICANN wächst: im Zuge der Einführung neuer generischer Top Level Domains hat die EU-Kommission ICANN aufgefordert, den Empfehlungen nationaler Regierungen mehr Gehör zu schenken. Droht jetzt das Modell ICANN zu kippen?
Gut vier Wochen sind es noch, bevor ICANN nach jahrelanger Vorbereitung die Endfassung des Bewerberhandbuchs veröffentlichen will. Doch zumindest die Europäische Kommission scheint schlimmes zu befürchten: nachdem vor kurzem bekannt wurde, dass Neelie Kroes, die EU-Kommissarin für die Digitale Agenda, noch im April 2011 versucht hatte, die Einführung der umstrittenen Rotlicht-Domain .xxx zu verhindern, hat sie nun für vergangenen Donnerstag kurzfristig ein Treffen mit Lawrence Strickling von der innerhalb der US-Regierung für ICANN zuständigen National Telecommunications and Information Administration (NTIA) einberufen, um mit ihm über die Internet-Verwaltung und insbesondere Themen rund um ICANN zu diskutieren. Wie Kroes in einer Presseerklärung vom 11. Mai 2011 mitteilt, sei dieses Treffen Folge des positiven Votums für .xxx. Sie wolle nun die europäische Sicht der Dinge zum Reformbedarf bei ICANN verdeutlichen. Namentlich erwähnt wird eine gesteigerte Verantwortung von ICANN gegenüber nationalen Regierungen innerhalb des Governmental Advisory Council (GAC), die Transparenz von und Rechenschaft für Handlungen innerhalb ICANNs sowie der Umgang mit ccTLDs in Bezug auf die betroffenen Behörden. Zugleich unterstütze die EU jedoch das „multi-stakeholder model“ zur Verwaltung des Internets und wolle mitwirken, dass es auch weiterhin weltweite Unterstützung von Community, Bürgern und Regierungen genießt.
Experten wie der frühere ICANN-Manager Kieren McCarthy werten dies als Frontalangriff auf ICANN und eine bewusste Abkehr vom Grundsatz, dass Regierungen so wenig Einfluss wie möglich auf das Domain Name System nehmen; McCarthy geht sogar davon aus, dass dies auf einen Vertrauensbruch zwischen EU und ICANN-Management deute. Das Treffen belege auch die Eskalation innerhalb des GAC, das von US- und EU-Vertretern dominiert werde. Beide seien frustriert, dass sie kaum Gehör bei ICANN fänden; so habe ICANN-Aufsichtsrat Peter Dengate Thrush das Februar-Meeting in Brüssel beinahe zum Kippen gebracht, als er sich den Empfehlungen des GAC nicht unterwerfen wollte. Der nTLD-Prozess birgt damit das Risiko, die Verwaltung des Internets durch ICANN in seiner aktuellen Form grundsätzlich in Frage zu stellen. Für McCarthy gilt es als unwahrscheinlich, dass der bis Juni 2012 laufende Vertrag mit CEO Rod Beckstrom verlängert wird; Dengate Thrush wird ohnehin im Juni 2011 ausscheiden. Gut möglich, dass beide nun erst recht versuchen, den nTLD-Prozess rasch abzuschließen, ohne auf die Interessen der EU oder der USA Rücksicht zu nehmen und damit das Profil einer eigenständigen ICANN zu schärfen.
Zum Ergebnis des Treffens zwischen Kroes und Strickling wurde öffentlich bisher wenig bekannt. Zwar bekannten sich beide dazu, die Verwaltung des Internets in privater Hand zu belassen; zumindest Kroes wiederholte jedoch die Forderung, dass ICANN die Empfehlungen des GAC künftig mehr Beachtung schenken möge. Ob und inwieweit dies den nTLD-Prozess betrifft, ließ sie offen; die EU-Kommission wird jedoch tunlichst einen zweiten Fall .xxx vermeiden wollen. Der politische Druck auf ICANN dürfte daher in den kommenden vier Wochen ein ungeahntes Ausmaß erreichen.