Das Zerren um die Macht im Internet wird heftiger: nachdem zu- nächst Pläne der Europäischen Kommission für einen radikalen Kurswechsel bekannt wurde, haben nun auch China und Russland für neue Kontrollmechanismen plädiert. Änderungen auf das Programm zur Einführung neuer Top Level Domains gelten als nicht ausgeschlossen.
Auslöser erneuter Diskussionen ist ein „International Code of Conduct for Information Security“ genanntes Schreiben, das die beiden Länder gemeinsam mit Tadschikistan und Usbekistan an die UN-Generalversammlung gesandt und anlässlich des Internet Governance Forums (IGF) in Nairobi veröffentlicht haben. Das Papier enthält insgesamt elf Punkte, die Grundprinzipien der Informations- und Netzweltgesellschaft enthalten und die jedes UN-Mitglied übernehmen soll. Die Verfasser sprechen sich darin beispielsweise dafür aus, nationale Souveränität, territoriale Integrität, Menschenrechte und Freiheit zu achten, bei der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus zusammenzuarbeiten sowie Rechte und Freiheit im Informationsraum zu respektieren. Insgesamt dominiert ein regierungsnaher Ansatz der Internet-Verwaltung.
Eine Breitseite gegen die aktuelle Verwaltung durch ICANN enthält Grundsatz 7 des Papiers; dort findet sich die Forderung „to promote the establishment of a multilateral, transparent and democratic international management of the Internet to ensure an equitable distribution of resources, facilitate access for all and ensure a stable and secure functioning of the Internet.“. Im Kern steckt dahinter die Idee, die Internet-Verwaltung dem unmittelbaren Zugriff der USA zu entziehen und auf UN-Einrichtungen zu übertragen; dies wird besonders deutlich am Begriff „multilateral“, während ICANN in seinen Erklärungen stets bemüht ist, den Begriff des „multi-stakeholder“-Modells zu betonen und damit die Einflussnahme nicht nur von Regierungen, sondern aller Interessengruppen zu unterstreichen. Auch die Forderungen nach einer Verbesserung im Bereich der internationalen Informationssicherheit zeigt unverblümt einen Angriff auf das Modell ICANN; von der Privatwirtschaft ist dagegen keine Rede mehr.
Auch die EU-Kommissarin Neelie Kroes hält mit ihren Vorstellungen nicht hinter dem Berg. Wie heise.de vermeldet, erneuerte sie die Forderung an die Netzverwaltung ICANN, besser mit den Regierungen zusammen zu arbeiten. Da der Versuch einer stärkeren Einflussnahme über das Bewerberhandbuch für neue Top Level Domains gescheitert war, soll einmal mehr die anstehende Verlängerung des IANA-Vertrags genutzt werden, um die Regierungsposition zu stärken. Der aktuelle Vertrag sollte eigentlich mit Ablauf des 30. Septembers 2011 enden, wurde jedoch vorläufig bis 31. März 2012 verlängert. Doch ob Kroes damit durchdringt, darf bezweifelt werden: wie heise.de weiter meldet, hat das US-Handelsministerium eine für September bei der EU-Kommission in Brüssel geplante gemeinsame Anhörung zum IANA-Vertrag abgesagt. Grund: man sieht keine Notwendigkeit für ein zusätzliches Treffen.