Die Entscheidung der Internet-Verwaltung ICANN, neue Top Level Domains in unbegrenzter Zahl zuzulassen, schlägt auch drei Wochen nach dem Paris-Meeting hohe Wellen. Dabei treten Experten zusehends auf die Euphoriebremse und warnen vor überzogenen Erwartungen.
Ende Juni 2008 beschloss ICANN anlässlich ihres Treffens in Paris, einer Empfehlung der Generic Names Supporting Organisation (GNSO) zu folgen und ein reguläres Konzept zur Einführung neuer Endungen zu etablieren. Bereits im 2. Quartal 2009 sollen die ersten Bewerbungen entgegengenommen werden. Doch nicht nur Prof. Wendy Seltzer von der Berkman Center for Internet & Society der Harvard Law School weist darauf hin, dass die Details des standardisierten Verfahrens („evaluation process“) noch gar nicht feststehen, obwohl sie eine Vielzahl schwieriger und ungelöster Fragen aufwerfen. Dies betrifft nicht nur Mehrfachbewerbungen um die selbe Zeichenkette, sondern auch Kernprobleme wie die Berücksichtigung von Rechten Dritter und international anerkannten Normen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Was darunter zu verstehen ist, vermögen auch ICANN-Experten nicht verbindlich zu definieren; so mag man in arabischen Ländern eine andere Auffassung von Moral haben als in westlichen Staaten. Solange aber nicht klar ist, an welchen Policy-Maßstäben sich eine Bewerbung zu orientieren hat, solange schafft die Entscheidung ICANNs nur Spielraum für juristische Diskussionen.
Auf vorwiegend technische Probleme weist dagegen Antony Van Couvering hin, seines Zeichens Gründer von NetNames und Verwalter einiger exotischer TLDs wie .tm (Turkmenistan), .bt (Bhutan) oder .pw (Palau-Inseln). So stehen Bewerber vor der Frage, ob sie die technisch komplizierte Registry-Funktion selbst übernehmen oder an Dritte fremdvergeben; insoweit bietet sich an, mit einem etablierten Unternehmen wie VeriSign, Afilias oder NeuStar zu kooperieren. Fraglich ist laut Van Couvering jedoch, ob diese ein eigenes Interesse haben, Fremdbewerbungen zu unterstützen. Möglicherweise könnten sich hier allerdings für ccTLD-Verwalter neue Möglichkeiten eröffnen; die DENIC eG soll laut Van Couvering in einer ersten Reaktion jedoch abgewunken haben. Auch die Kostenfrage – etwa eine Abrechnung pro Domain, ein Festpreis oder eine Umsatzbeteiligung – muss ferner geklärt sein, da der laufende Registry-Betrieb nicht unerhebliche Kosten verursacht.
Schließlich hat sich auch die Suchmaschinenfraktion zu Wort gemeldet und die Frage aufgeworfen, ob und wie die neuen TLDs angesichts möglicher Domain-Namen wie auctions.ebay oder auch book.amazon Suchergebnisse beeinflussen werden. Nach Einschätzung von Adam Crawford von propellernet.co.ukliebt etwa Google die Verwendung von Schlüsselwörtern, so dass sie bevorzugt gelistet werden, wenn sie in der Domain enthalten sind. Gerade vollständig generische Adressen versprechen so ein hohes Potential für die Suchmaschinenoptimierung. Zudem könnten Städtedomains wie .ldn (London) eine stärkere Lokalisierung der Suchergebnisse erleichtern. Wie sich die neuen TLDs auf Preise im Domain-Handel auswirken, ist für Crawford allerdings noch völlig offen. Unter Umständen könnte eine Flut neuer Endungen sogar dazu führen, dass TLDs überflüssig werden, und die Nutzer künftig nurmehr Schlüsselworte in die Adresszeile des Browsers tippen. Doch ob sich ICANN wirklich selbst überflüssig machen wollte?!