Die Internet-Verwaltung ICANN wird auch in Zukunft die unter einer Domain erreichbaren Inhalte nicht überwachen. Das kündigte das Board of Directors an und erteilte damit der vertraglichen Vereinbarung und Durchsetzung von »Registry Voluntary Commitments« eine Absage.
»ICANN shall not regulate (i.e., impose rules and restrictions on) services that use the Internet’s unique identifiers or the content that such services carry or provide, outside the express scope of Section 1.1(a)« – so heisst es in den Statuten der Netzverwaltung. Die Regulierung von Inhalten ist ICANN außerhalb ihres satzungsmäßigen Zwecks also grundsätzlich untersagt. Allerdings hat eine weite Auslegung des Zwecks zu Ausnahmen geführt, von denen unter anderem im Rahmen von »Registry Voluntary Commitments« (RVCs), vormals bekannt als »Public Interest Commitments« (PICs), bereits Gebrauch gemacht wurde. Dabei fügten Registries ihren Verträgen mit ICANN freiwillige Verpflichtungen im öffentlichen Interesse hinzu, in denen sie versprechen, ihre Domain-Namen so zu verwalten, dass sie nicht zuletzt das Governmental Advisory Committee (GAC), das Vertretungsorgan der Nationalstaaten innerhalb ICANNs, zufriedenstellen. Eine Registry, die präventiv Bedenken der Lobby des geistigen Eigentums beseitigen will, könnte zum Beispiel versprechen, den Inhabern von Urheberrechten besondere Befugnisse zu geben, um Domains wegen der darunter erreichbaren Inhalte zu überwachen oder zu sperren. Andere Registries, die auf dem chinesischen Markt Fuß fassen möchten, könnten sich verpflichten, keine Webseiten zuzulassen, die das Tian’anmen-Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens erwähnen. Wenn ICANN allerdings auf die Einhaltung der Registry-Verträge zu achten hat, müsste man in Bezug auf die Einhaltung der RVCs indirekt auch Inhalte und Dienste im Internet regulieren. Das wäre unter anderem nach Auffassung von Milton Mueller, Professor am Georgia Institute of Technology, ein direkter und offensichtlicher Verstoß gegen den eigenen begrenzten Auftrag. ICANN werde so zur Internet-Polizei, die vertragliche Beschränkungen durchsetzen müsste.
Anlässlich des 80. ICANN-Meetings in Kigali (Ruanda) gibt es nun konkrete Anzeichen für die Abkehr eines solchen Content-Kurses. Becky Burr, Juristin und Mitglied des ICANN Board of Directors, teilte mit, dass sich der Vorstand rechtlich beraten lassen und entschieden hat, dass es die Satzung nicht erlaube, vertragliche Verpflichtungen durchzusetzen, die eine Regulierung von Inhalten beinhalten. Becky Burr erklärte:
The board was looking at the legal issues there to determine whether under our bylaws we were permitted to accept and enforce Registry Voluntary Commitments related to the restriction of content. On Saturday at our board meeting the board has resolved that we can’t and that we will not accept into the contracts (the new registry agreements) commitments that involve the restriction of content.
Auch ein »outsourcing« solcher Überprüfungen auf einen Dritten sei auf Grundlage des dazu vorliegenden »case law« im US-Recht zu »free speech« bzw. zum »first amendment« der Verfassung nicht geplant, auch wenn sich die Rechtsprechung nicht unmittelbar übertragen lasse. Sie ließ aber auch eine Hintertür offen:
I wanna be clear that does not preclude registries from making commitments and creating outside processes to enforce those commitments.
Registries könnten also freiwillige Verpflichtungen durchaus eingehen; es liege dann aber nicht an ICANN, für deren Einhaltung zu sorgen. Eine nähere Begründung soll in Kürze folgen; den konkreten Inhalt der juristischen Beratung werde ICANN jedoch nicht offenlegen. Klar ist aber:
ICANN shall not regulate content.
In einer ersten Stellungnahme begrüsste Milton Mueller die Ankündigung ICANNs als Sieg für die Meinungsfreiheit.
This is a sweet victory for ICANN’s civil society representatives in the Noncommercial Stakeholders Group.
Registries und Registrare hätten sich zu diesem Thema ziemlich bedeckt gehalten. Er betonte, dass man jeden anderen Schritt im Rahmen eines »Independent Review Process«-Verfahrens angefochten hätte.
Einen Mitschnitt des 80. ICANN-Meetings zu diesem Thema finden Sie ab etwa Minute 21.